MR. BIG – Lean Into It

(Atlantic, 1991)

In Zeiten von Gratismentalität und illegalen Downloads gibt es doch immer wieder durchgeknallte Typen, die doppelt bezahlen, nämlich neben der schwarzen Vinylscheibe, die sie sich vor über 20 Jahren gekauft haben, auch noch die kleinere silberne Version anschaffen, um die betreffende Musik auch im Auto genießen zu können.

Natürlich, der Typ bin ich. Und mit Mr. Bigs „Lean Into It“ habe ich mal so richtig die ‚alten Zeiten’ aufleben lassen, als ich langsam angefangen habe, Paul Gilberts Läufe bei Tempo 70 zu üben, als meine Mitschülerinnen N. und P. noch hübsch waren und als ich mir sicher war, dass die Welt bereit war, unsere Schülerband zu Rockstars zu machen (und über den Sänger durchaus hinwegzuhören).

„Lean Into It“ ist eines der Alben, die kommerzielle Eigenschaften mit musikalischer Qualität vereinen. Während also eine Gruppe schmachtender Mädchen „Open your heart to mi-hiiiine“ kreischt, kann sich der Musikerfreund an der Virtuosität der Gruppe ergötzen.

Der Bohrmaschineneinsatz im Opener „Daddy, Brother, Lover, Little Boy“ hat damals zwar Aufmerksamkeit erregt, ist am Ende aber nur ein Gimmick, der von einem rundum coolen Song nicht zu sehr ablenken sollte. Ich bin kein echter Freund von Uptemponummern, aber dieses Stückchen überzeugt mit ausreichend Rock and Roll, guter Riffarbeit und einer Attitüde, wie man sie heute eher selten findet.

Mein damaliger Gitarrenlehrer erzählte mir von richtig geilen Bluesgitarristen: „Stevie Ray Vaughan, Robben Ford… nicht, wie wenn der Paul Gilbert Blues spielt“. Beim bluesig-rockigen „Alive And Kickin’“ macht er seinen Job allerdings sehr gut, hält sich im entscheidenden Moment zurück und stellt sein Spiel deutlich in den Dienst eines treibenden Rocksongs.

Bis heute verstehe ich nicht, was die Zeile ‚Hanging out with Janis, moving to Atlantis’ bedeutet, und würde ich diesen Text heute singen, käme der Metal Hammer Mitarbeiter wahrscheinlich persönlich vorbei, um mir die Fresse zu polieren. Aber „Green Tinted Sixties Mind“ zeigt, wie man einen poppigen Bubblegum Song auf ernsthafte Weise herüberbringen kann, und während des Solos dürfen auch mache Prog-Rock Mathematiker erleben, wie songtauglich doch ein 5/8 Takt klingen kann.

Nun mag – und darf – man sich ein wenig streiten, ob man das rohe, eher unschuldige Original von (Jeff Paris’) „Lucky This Time“ bevorzugt oder die etwas opulente Version des Quartetts aus L.A. Beide haben ihren Charme, und ich wage zu sagen, dass mir Mr. Bigs Einsatz von Harmoniestimmen durchaus zusagt. Am Ende bleibt wieder ein genialer Popsong im Rockgewand, an dem die oben erwähnten Mädchen erneut auf ihre Kosten kommen genau wie der verbohrte Musikexperte.

Richtig shakig wird es bei der Midtempo Nummer „Voodoo Kiss“. Hier groovt die Band mit geshuffeltem Lokomotivenbeat wie die sprichwörtliche Sau. Hier wird wieder deutlich: Man kann einen Song ganz simpel stricken oder verkomplizieren. Mr. Big finden den passenden Mittelweg. Ein paar unerwartete Abschläge hier und da, aber der Groove bleibt unberührt.

„Never Say Never“ klingt mit seinem treibenden Groove und dem erneut eingängigen Refrain zunächst sehr klar und schlüssig. Aber auch hier finden im Hintergrund wieder Dinge statt, die man so bei keiner anderen Band zu hören bekommt. „Man muss erst mal auf so etwas kommen“.

Romantisch darf man beim folgenden „Just Take My Heart“ werden, welches ein weiteres Mal mit eingängigen Melodien, eingebettet in durchdachte Arrangements aufwartet.

Mein persönlicher Favorit ist „My Kinda Woman“. Alleine wegen des ‚Picture perfect…’ Parts nach dem Solo. Der Song ist eher straight, ein wenig bluesig, ja vielleicht eine Mischung aus Blues und AOR – falls das möglich ist. Über allem steht Eric Martin in Höchstform und selbstverständlich die offene Produktion, die damals glücklicherweise noch als salonfähig galt.

Nun kommt mir wieder mein Gitarrenlehrer mit seinen Ansichten zum Blues in den Sinn. Tatsächlich hat sich – nach meiner nicht immer bescheidenen Meinung – mit „A Little Too Loose“ ein Filler eingeschlichen. Zweifellos ein guter Song, aber er mag nicht so richtig zum Rest des Albums passen und hätte wohl der Vereinigung Rod Stewart / Jeff Beck ein paar Dekaden früher besser zu Gesicht gestanden.

„Road To Ruin“ war immer einer meiner Favoriten gewesen, kannte ich den Song bereits von der „To Be With You“ Single. Und obwohl ich auch wieder kein großer Freund von ternären (geshuffelten) Rhythmen bin (bei den meisten Bands sind das auch tatsächlich die Füllsongs), überzeugt „Road To Ruin“ auf ganzer Linie. Schließlich haben wir es mit guter Riffarbeit zu tun, über die sich eingängige Melodien legen.

Ob die Band wirklich stolz auf „To Be With You“ ist, wird wohl ein Mysterium bleiben. Angeblich wollten sie sich mit diesem Song über die Musikindustrie lustig machen, auf der anderen Seite war es wohl sicherlich genau dieses Stückchen, das alle Beteiligte zu Millionären gemacht hat. Ein netter Song, auf den Mr. Big leider von Seiten der Mainstream Medien und Hörer immer wieder reduziert wird. Zum Glück sind wir nicht Mainstream.

Julian Angel

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Julian Angel ist Mastermind der deutschen Hair Metal Band Beautiful Beast, deren drittes Album ‚Kick Down The Barricades’ am 24. Januar 2014 erschienen ist. Website: www.beautifulbeastrock.com .
Julian Angel betreibt ebenso den Hair Metal Newsletter. Unter www.beautifulbeastrock.com/new.html könnt Ihr Euch eintragen und obendrein ein mp3 gratis zum Download bekommen.
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